Das Gefühl wenn man merkt, wie ein Spiel funktioniert

Darüber, was es bedeutet, wenn das Gameplay die Charactere und die Story leitet. Am Beispiel von Cyberpunk 2077

Das Gefühl wenn man merkt, wie ein Spiel funktioniert
Spoilerwarnung: Im folgenden werden Story relevante Informationen aus Cyberpunk 2077 genannt.

Ich möchte hier zunächst meinen Aufhänger für diesen Beitrag erklären: Ich habe die letzten Wochen relativ viel Cyberpunk gespielt. Ich habe das maximale Level erreicht, habe die Open World "abgearbeitet" und mich dann voll und ganz den so oft gelobten Nebenquests des Spiels zu widmen. Nun habe ich vor allem 4 große Side- Questlines verfolgt, jede davon dreht sich um einen Character und seine Probleme. Eine davon habe ich so schnell wie möglich abgeschlossen (also vor meiner "Abarbeitung" der Open World, den Rest danach. Die erste Questline hat mich noch relativ stark begeistert, mit jeder weiteren allerdings nahm meine emotionale Verbundenheit ab, was dann schließlich darin endete dass ich die noch vor Ende der einen Questline das Spiel beendet habe und nicht wirklich Lust hatte, weiter zu spielen. Und das liegt meiner Meinung nach daran, dass ich unterbewusst erkannt habe welchen Zweck "Charactere" in dem Spiel haben.

Ich möchte dies an der ersten Questlinie um Judy aus Cyberpunk 2077 festmachen. Man lernt sie im Rahmen der Hauptquest kennen, später entstrickt sich eine mehr oder weniger umfangreiche Sidequest um das Clouds, ein besonderes Bordell in Night City. Bereits während der eigentlichen Sidequest, in der es darum geht das Clouds von seinen Besitzern zu befreien und zu übernehmen, gibt es kleinere Andeutungen dass sich eine Romanze mit Judy entwickeln könnte. Beispielsweise bekommt V den Schlüssel zu Judys Apartment, in dem es dann einige Dialogzeilen über die Liebe und Judys Beweggründe zu entdecken gibt. Gegenüber den meisten anderen Characteren wirkt dies auffällig, die meisten NPCs beziehen Ihre Dialoge ausschließlich auf sich selbst (oder andere NPCs) . Also erwartet man als geschulter Gamer dass sich hierraus eine Romanze entwickeln könnte.

Für mich gehörte Judy zu den interessanteren Characteren, Ihr Verlangen nach Veränderung, Ihre unzufriedenheit in Night City, Ihr Einsatz für die ausgebeuteten Prostituierten, das alles wirkt menschlich und nachvolziehbar. Aber umso länger man spielte, besagte Romanze blieb aus. Irgendwann ist dann die eigentliche Questreihe um das Clouds abgeschlossen und man fragt sich "Wars das jetzt"? Nach einiger Zeit aber bekommt man eine SMS von Judy, man solle sie an einem Stausee treffen. Als Night City Kenner fällt sofort das Setting auf. Es ist Ruhig und abseits der eigentlichen Stadt. Spätestens als man zusammen mit Judy in die Taucheranzüge hüpft und sie V "etwas zeigen" will, ist eigentlich klar dass es sich hier nicht um eine "Baller alles über den Haufen Quest" handelt.

Night City - Die Stadt mit mehr Character als die eigentlichen Charactere

Die Quest ist wirklich schön, berüht in einigen Momenten und bringt eigentlich viel Spaß beim Spielen. Eigentlich. Denn sie passt so gar nicht zum Rest des Spiels, ja nicht einmal zum Rest der Questline. Man weiß als Spieler relativ schnell: "Aha, das ist jetzt also eine Romance Quest". Man freut sich schon darauf wie sie sich entwicklet, was alles passieren wird, wie es Einfluss auf die Gesamthandlung nehmen wird und vieles mehr. Irgendwie geht es dann aber alles sehr schnell. Eine Berührung im Gesicht auf dem Rand der Badewanne mündet in einem Techtelmechtel im Bett, 2 Minuten später schläft V mit Judy ein, noch ein kurzes Gespräch am Morgen in dem Judy uns erläutert, dass sie wegen uns die Stadt doch nicht verlassen wird und das wars.

Wirklich.

Keine Folgequest, kein Ausbau der Beziehung, keinen Einfluss auf die weitere Handlung , garnichts. Und das schlimme ist: Es ist bei allen Nebencharacteren genau so. Egal ob Panam, Kerry oder River (die Charactere aus den anderen besagten großen Questreihen).

Und das ist so unglaublich schade. Charactere, die als Menschen wahrgenommen werden sollen, am Ende des Tages aber so deutlich einer Spielmechanik folgen, dass es uns als Spieler auffallen muss. Die Charactere und die Story die wir erleben dienen dem Gameplay. Es wirkt fast so, als wenn die Aufgabe war:

Hey, wir brauchen eine Romanze, ihr dürft dafür 5 Quests machen, aber mindestens 80% davon muss Open World Gameplay sein.

Mittlerweile habe ich das Spiel durch, am Ende gab es noch mal 3 Min Dialog mit Judy, die man durchaus bis hierhin wieder vergessen haben könnte ("ach ich hatte mal vor 15 Stunden eine Romanze?"). Und ich musss leider dabei bleiben, das Spiel hat seine Gameplay auf Kosten seiner Geschichte aufgebaut. Erst gab es die Welt, dann das Gameplay und zuletzt die Frage "Hey, wie füllen wir die Welt eigentlich?". Mag sein dass dies für viele Menschen funktioniert, und ich freue mich für sie.

Aber mich nehmen diese Spiele nicht mehr wirklich mit. Was bleibt, ist die Enttäuschung.


Quellen

Titelbild: https://www.retbit.com/2020/10/27/cyberpunk-2077-delayed-once-more-until-december/